In Wilhelmsburg liegt der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei 55 Prozent, auf der Veddel liegt er bei 70 Prozent. Hier wachsen die Kinder in einem kulturellen Referenzrahmen auf, der mit Konzepten klassischer Integration nicht mehr zu greifen ist. Es gibt nicht die eine deutsche Mainstreamkultur, an der sich orientiert und in die sich integriert werden kann. Wir brauchen also neue Ideen von Identität in Hamburg. Neue Ideen von Integration. Eine Identität, die die Vielfalt in der Bevölkerung als Ausgangspunkt nimmt und nicht die einer Muster-Gesellschaft. Ein Interview mit Bettina Kiehn und Judy Engelhard vom Bürgerhaus Wilhelmsburg.
Interview von Steph Klinkenborg
Die Vielfalt im Stadtteil sieht das Bürgerhaus Wilhelmsburg als Ausgangspunkt seiner Arbeit. Der Fokus Interkultur als Querschnittsaufgabe spielt seit fünf Jahren eine maßgebliche Rolle in der Arbeit des Hauses, denn die Vielfalt kultureller Beziehungen und das Vorantreiben der kulturellen Einbeziehung auf lokaler Ebene ist ein fundamentales Element demokratischer, urbaner Entwicklung. Dabei gilt es, Interkultur nicht nur als Integration zu definieren, sondern als Inklusion aller gesellschaftlichen Akteure. Hier brauchen wir zum einen das Wissen um das jeweils individuelle Andere, Lust auf Auseinandersetzung und vor allem eins: offene Räume. Wie schafft das Bürgerhaus eine (inter-)kulturelle Barrierefreiheit im Haus herzustellen, den eigenen Blick zu relativieren, Unterschiede auszuhalten und immer wieder neue Beziehungen knüpfen?
Steph Klinkenborg: Im Leitbild des Bürgerhauses Wilhelmsburg heißt es: „Wir laden Menschen jeder Kultur, jeder Religion, jeden Alters und Geschlechts ein unser Haus zu nutzen um miteinander in Kontakt zu kommen“. Was bedeutet das für die Praxis?
Bettina Kiehn: Unser Fokus liegt auf der Aktivierung des Gemeinwesens mit dessen kulturellen Potenzialen. Hier agieren wir auf Augenhöhe mit den unterschiedlichen Zielgruppen der Elbinseln und beziehen die Akteure der Communities und Szenen des Stadtteils maßgeblich in die Arbeit ein. Wir bieten Räume, Foren und fungieren als Netzwerkmotor für die spezifischen Interessen unserer Zielgruppen.
Klinkenborg: Was macht Deine interkulturelle Arbeit im Bürgerhaus Wilhelmsburg aus?
Judy Engelhard: Als ich vor vier Jahren mit einer Honorarstelle im Bürgerhaus Wilhelmsburg begann, glaubte ich, Pionierarbeit leisten zu müssen. Ein interkulturelles Wirken war in Wilhelmsburg für mich nicht sichtbar. Gleichzeitig konnte ich mir keinen multikulturelleren Stadtteil vorstellen. Ich begann meine Arbeit mit einer Recherche und stieß dabei auf einige Vereine, die kulturell und auch interkulturell arbeiteten. Sie traten mit ihrer Arbeit jedoch nicht nach außen. Bereits nach einem ersten Kontakt zeigten sie starkes Interesse nach einem Austausch mit anderen Vereinen und Gruppen.
Es folgten mehrere Veranstaltungen mit ansässigen Vereinen, zu denen wir breit und „interkulturell“ einluden. Es ist unumgänglich, in den verschiedenen Communities Multiplikatoren zu finden, die eine zielgruppengerichtete Öffentlichkeitsarbeit auf die Beine stellen. Denn nur die Mitglieder einer bestimmten Gruppe verfügen über die Kommunikationsmittel – z.B. „Mund-zu-Mundpropaganda“ –, die über übliche Werbematerialien hinaus tragen.
In der interkulturellen Arbeit lässt sich nicht auf soziokulturell gewachsene Methoden zurückgreifen, weil interkulturelle Kommunikation anders funktioniert und sich anderer Muster bedient. Interkulturelles Arbeiten bedeutet immer persönliche Kontakte aufzubauen und zu pflegen.
Klinkenborg: Welche Beispiel für gelungene interkulturelle Arbeit kannst Du nennen?
Engelhard: Seit zwei Jahren veranstalten wir den „Umzug“ der Kulturen. Menschen aller Altersklassen und unterschiedlicher Herkunft beteiligen sich an dem Fest und zeigen, dass sie kulturelle Vielfalt als Stärke begreifen. Der Umzug bietet die Möglichkeit der Begegnung mit anderen und des Darstellens der eigenen Besonderheit in der Öffentlichkeit: Das sind wichtige Voraussetzungen, damit Interkultur wachsen kann.
Erstmals im letzten Jahr veranstalteten wir mit dem „Netzwerk für Musik von den Elbinseln“ das Festival „48h Wilhelmsburg“. An unterschiedlichen Orten, wie einem Afro-Shop, dem Versammlungsplatz der Sintis, einem portugiesischen Restaurant, einem türkischen Bäcker oder einer Studenten-WG fanden Konzerte statt. Hier konnten interkulturelle Kompetenzen erprobt werden. („Netzwerk für Musik von den Elbinseln“)
Bereits zum dritten Mal organisieren wir gemeinsam mit der Familie Weiss das Elbinsel Gipsy Festival. Es ist deshalb so authentisch und erfolgreich, weil es einerseits auf Eigeninitiative der Sintis basiert, und andererseits auf gegenseitigem
Vertrauen zwischen dem Bürgerhaus und der Sintigemeinde.Vertrauen ist die entscheidende Komponente interkultureller Arbeit. Im Familienbereich sprechen wir unterschiedliche Kulturen mit unserem „Sonntagsplatz“ an.
Klinkenborg: Was sind eure Perspektiven im Bereich Interkultur?
Kiehn: Da wir Interkultur insbesondere als Inklusion der Akteure verstehen, steht das Thema Beteiligung ganz oben auf der Tagesordnung. Die Stadtteilentwicklung ist durch IBA und igs enorm beschleunigt. Die interkulturelle Beteiligung kam nicht hinterher. Wir brauchen eine „interkulturelle Barrierefreiheit“ die echte Beteiligung zulässt. Interkultur hat andere Akteure und ein Spektrum an Möglichkeiten und Potenzialen, dass bisher nur zu einem Bruchteil genutzt wird. Hier sind sowohl Synergieeffekte, als auch Dissonanzen und Reibungsflächen gemeint. Es gibt bereits sowas wie eine kulturelle Identität der Wilhelmsburgerinnen und Wilhelmsburger. Diese gilt es zu stärken, durch Auseinandersetzung und Weiterentwicklung.
Klinkenborg: Danke für das Interview.
Kontakt: Bürgerhaus Wilhelmsburg, Mengestrasse 20, 21107 Hamburg, 040/75 20 17-0, , www.buewi.de