Kultureller und ästhetischer Bildung werden zahlreiche Wirkmechanismen zugeschrieben. Häufig ist mit der Förderung eines Projektes oder Programms zugleich die Auflage oder zumindest Erwartung verbunden, diese Wirkungen sichtbar und dokumentierbar zu machen. Der Impuls geht der Frage nach, was von Kultureller Bildung erwartet werden kann, ob und wie Prozesse und Wirkungen sichtbar gemacht werden können und räumt dabei mit einigen Mythen rund um Kulturelle Bildung auf.
Autorin: Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss
Kulturelle Bildung, betrachtet als produktive und rezeptive Allgemeinbildung in den Künsten oder besser, ästhetischen Praktiken, die auf kritische Reflexionsfähigkeit und Erfahrungen von Selbstwirksamkeit zielt, kann unterschiedliche Wirkungen auf das Individuum, und damit auch Auswirkungen auf eine Organisation oder sogar gesellschaftliche Entwicklungen entfalten. Kulturelle Bildung ist ein lebenslanger Prozess und kann immer wieder in biografischen Lernzusammenhängen wirksam werden. Allerdings sind häufig genannte (Transfer-)Wirkungen wie beispielsweise Kreativitätsförderung, Entwicklung sozialer Kompetenz, Teilhabegerechtigkeit oder gar Intelligenzsteigerung mit Vorsicht zu genießen.
Wissenschaftlich stehen solche allgemeinen Aussagen auf tönernen Füßen, da Wirkungen abhängig sind von den konkreten Bedingungen eines Angebotes, der Zielgruppe, Sparte/des Genres, der Qualifikation der Anleitenden, der biografischen Vorerfahrung der Teilnehmenden und von vielem mehr. Mehr noch: das vorschnelle Schielen auf Transferwirkungen, d. h. Wirkungen die außerhalb der eigentlichen künstlerischen Betätigung liegen, verstellen allzu leicht den Blick für die Kraft einer zweckfreien, ästhetischen Bildung, die vor allem in der Ausbildung und Übung einer grundsätzlichen sinnlichen Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Gestaltungsfähigkeit des Individuums liegt. Politisch bewirkt die Wiederholung von Transfer-Mythen, dass Kulturelle Bildung als Superkraft und Allheilmittel betrachtet, an einer strukturellen Überforderung leidend, Schritt für Schritt entwertet wird.
Das heißt aber nicht, dass man das Potenzial von ästhetischen Praktiken für eine gelingende Lebensführung geringschätzen darf. Gerade indem in ästhetischen oder auch soziokulturellen Praktiken Prinzipien wie Freiwilligkeit, Stärken- und Interessenorientierung, Partizipation und Anerkennung oder auch ästhetische Prinzipien wie Emergenz, Ambivalenz oder Leiblichkeit konsequent verfolgt werden, eröffnen sich Möglichkeiten für den Einzelnen zum Umgang mit Unsicherheiten, zur eigenen Verantwortungsübernahme, Selbstreflexion und zur umfassenden Teilhabe an einer immer komplexer werdenden Gesellschaft: Allesamt Kompetenzen, die nicht nur Heranwachsende dringend zur Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen wie Klimawandel, Diversität, Wandel der Arbeitswelt oder Digitalität brauchen.
Allesamt Kompetenzen, die nicht nur Heranwachsende dringend zur Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen wie Klimawandel, Diversität, Wandel der Arbeitswelt oder Digitalität brauchen.
Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss
Um die Ergebnisse ästhetischer Praktiken und mögliche Wirkungen auf unterschiedlichen Ebenen transparent zu machen oder gar zu messen, ist es wichtig, das jeweilige Angebot in seinem sozialen und organisationalen Kontext zu betrachten und den Mut zu haben, aus fachlich ästhetischer, pädagogischer, sozialer oder auch politischer Perspektive eigene Wirkungsbeobachtungen darzustellen. Es ist ein Mythos, dass Wissenschaft das Potenzial oder gar die Wirkung eines ästhetischen Angebots immer vollumfänglich erfassen kann. Wissenschaftliche Wirkungsforschungen können – teils mit sehr hohem methodischem Aufwand – bestimmte Details einer Fragestellung beleuchten, aber selten ein Projekt oder Programm in Gänze erfassen oder eine allgemeine Wirkungsableitung zulassen. So gibt es zwar mittlerweile wissenschaftliche Erkenntnisse, die auch projekt- und angebotsübergreifend gültig sind, wie beispielsweise dass Teilnehmende, die das erste Mal an kulturellen Bildungsprojekten teilnehmen in der Regel besonders stark profitieren oder dass die Wirkung in Hinblick auf ein nachhaltiges Kulturinteresse umso prägender ist, wenn bereits in der Kindheit kulturell-künstlerische Erfahrungen ermöglicht werden. Solche allgemeinen Erkenntnisse sind jedoch rar gesät und im konkreten Einzelfall sogar widerlegbar.
Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine Stärkung des fachlichen Erfahrungswissens und der Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit der Akteure Kultureller Bildung selbst. In der sich wiederholenden Befragung des eigenen Angebotes hinsichtlich seiner Potenziale, in der kollegialen Beratung, in einem engen Dialog mit den Teilnehmenden über deren Erfahrungen und Entwicklungen während des Prozesses eines kulturellen Bildungsangebotes und in der Arbeit an unterschiedlichen Darstellungsformen der ästhetischen, pädagogischen oder sozialen Prozesse und Ergebnisse liegen reiche Erkenntnisse über die Wirkmächtigkeit des eigenen künstlerischen oder kulturellen Angebotes. Eine daraus sich entwickelnde spezifische Form des „storytellings“ kann Förderer ebenso – wenn nicht gar nachhaltiger – überzeugen als wissenschaftliche Zahlen und Fakten.
Praktiker*innen können von Wissenschaftler*innen oder anderen Fachpersonen in diesen selbstreflexiven Prozessen sinnvoll unterstützt und begleitet werden. Perspektivenreichtum und Interdisziplinarität ist hier durchaus als hoher Wert zu begreifen. Dies bedeutet aber einen prozessualen Wissenstransfer bereits in der Entstehung des Angebotes, Projektes oder Programms zu verankern. All das kostet Zeit und Ressourcen und wäre bereits im Stadium der Beantragung eines Projektes oder Programms mitzudenken. Vielleicht auch eine Anregung an Förderer, weniger Evaluationen einzufordern und mehr selbstreflexive Räume und Wissenstransfer strukturell zu verankern, um Wirkungen transparent zu machen.