Die Stadt als Spielfeld

Unsere Gesellschaft ist im digitalen Wandel und Corona beschleunigt ihn nur. Wie müssen Kunst und Kultur darauf reagieren und wie sieht eine passende, nachhaltige digitale Strategie aus?

Autor: FRANK TENTLER

Foto: Kieran Sheehan, unsplash.com

Viele Kulturinstitutionen haben ignoriert, wie sich alles um sie herum radikal verändert. Sie haben darauf beharrt, dass Marketing auch weiterhin mit Papier funktioniert und hier und da einmal einen Facebook-Post oder eine Google-Werbung erlaubt. Sie haben sich als öffentliche Kulturinstitution darauf verlassen, dass der Tropf, an dem Sie hängen, immer weiter ­gefüllt wird. Sie waren satt und zufrieden und arrogant genug anzunehmen, dass sich die Situation nicht ändern wird. Doch die Situation hat sich geändert. Radikal und unwiderruflich. Aber nicht die Pandemie ist ihr Problem, sondern etwas, das sie eigentlich schon vor über zehn Jahren selbst hätten erkennen müssen.

Ich lebe im Ruhrgebiet. Einer Region, die es vor gut 150 Jahren so noch nicht gab. Die technische, die medizinische, aber auch die sozial-gesellschaftliche Entwicklung bekam eine solche Dynamik, dass wir heute in einer Welt leben, die meine Vorfahren, die Anfang des 19. Jahrhunderts ins Ruhrgebiet kamen, ihre damalige neue Heimat nicht mehr erkennen würden.

Alles das passierte in 150 Jahren. Aber die Digitale Revolution wird tiefgreifendere, massivere, für uns heute noch unvorstellbare Veränderungen mit sich bringen, die sich in kürzester Zeit, vielleicht in nur fünf bis zehn Jahren, auf den gesamten Planeten auswirken werden.

Wir hier in Deutschland haben Probleme, uns diesen Prozess, diese Auswirkungen vorzustellen. Wir scheinen digital einen blinden Fleck zu haben oder sind einfach aufgrund ­unserer Mentalität nicht in der Lage, zukunftsorientiert und agil problemlösend zu denken. Daher gehören wir noch oder vielleicht auch in Zukunft zu den Verlierern der Digitalen Revolution. Die Karten werden gerade neu gemischt.

Alle, die sich bereits in den letzten zehn, 15 Jahren mit diesen Veränderungen fortlaufend entwickelt haben, werden mit der Digitalen Revolution anders, hoffentlich besser, umgehen als wir. China, Indien, Südkorea, die Niederlande, Estland. Meine Studierenden aus aller Welt zeigen mir, wie einfach eine nachhalti­ge und soziale Digitalisierung ihnen als „Native Smart Citizens“ von der Hand geht. Sie denken Digitalisierung ganzheitlich.

Wir Deutsche merken schon, dass die Digitalisierung unser Leben, unser Umfeld radikal verändert. Nur bringen wir diese Veränderungen nicht so mit unserem Leben in Verbindung, wie wir es müssten.

Frank Tentler (rechts oben) im TALK mit Dr. Carsten Brosda und Corinne Eichner, Screenshot: STADTKULTUR HAMBURG

Ich arbeite mit Städten an sogenannten „Smart City“-Projekten zusammen. Mein Problem: Die allermeisten Städte verstehen darunter in großer Menge verlegte Glasfaserkabel, Ampelsensoren und anderen technischen Schnickschnack. Was sie oft nicht verstehen ist, dass wir eigentlich keine Smart Citys, sondern Smart Citizens benötigen, um diesen immensen Wandel erfolgreich zu bewältigen.

Schon heute lassen wir uns durch die Digitalisierung so stark übernehmen, dass wir nach und nach das verlieren, was wir als unseren natürlichen Lebensraum ansehen: unsere ­Städte. Parasitäre Plattformen – Amazon, Uber, Airbnb, ­Netflix, Youtube, … – berechnen mit künstlicher Intelligenz und Hochleistungsrechnern die kleinste Möglichkeit, wie sie mit unseren Daten Geld machen können oder wie sie uns unser Geld noch einfacher aus der Tasche ziehen. Oder beides. Handel, Banken, Mobilität, Freizeit: Für alles bieten diese Plattformen Angebote und Lösungen. Alle Einnahmen daraus werden täglich höher, fließen nicht in städtische Kassen und fehlen somit auch in der Kulturwelt.

Dabei wäre es eigentlich ganz einfach, diesen Zustand umzukehren. Wir Menschen haben 24 Stunden pro Tag Zeit zu leben. Wir schlafen, wir essen, wir arbeiten, wir treffen uns mit Freunden, wir lesen, schauen uns Fernsehen an, gehen ins Konzert und oftmals reichen diese 24 Stunden nicht aus, um alles zu erleben, was wir uns vornehmen. Diese 24 Stunden sind aber auch mit drei bis fünf Stunden Internet-Zeit gefüllt. Viel mehr Zeit kann und soll ein gesund denkender Mensch nicht in der digitalen Welt verbringen. Aber diese Zeit wird von smarten Algorithmen und funkelnden Plattformen ständig versucht auszudehnen.

Was ist also die Aufgabe der Kultureinrichtungen? Natürlich sich mit allen analogen und digitalen Mitteln dieser feindlichen Übernahme von Zeit entgegenzustellen. Was sie dafür benötigen ist eine komplexe und neue Strategie, neue Konzepte und, am allerwichtigsten, sie benötigen ein Netzwerk von Menschen, die aus verschiedenen Richtungen das gleiche Ziel haben. Als Ausgangspunkt bietet sich eine gewachsene Stadt und ihr Lebensraum hervorragend an.

Diese Leistung kann nicht von den Kulturschaffenden allein erbracht werden, sondern sie muss ein Bestandteil einer neuen städtischen Infrastruktur sein – einer städtischen Plattform im Stile der parasitären Zeitdiebe. Dafür muss sich eine städtische Verwaltung verändern. Agiles Projektmanagement und Think Tanks, Prototyping und Design Thinking Workshops sollten aus dem Fremdwörterbuch einer Stadtverwaltung getilgt werden. Aus Stadtverwaltungen werden Startup-Verwaltungen. Und auch Kulturinstitutionen müssen einen Startup-Spirit entwickeln.

Im April wurde ich als Experte zu einem Workshop einge­laden. Aufgabe war es, gemeinsam mit Beschäftigten aus der Eventbranche nach Möglichkeiten zu suchen, vor dem Hintergrund der Corona-Krise und den Auswirkungen der Digitalisierung eine erfolgreiche, nachhaltige und verantwortungsvolle Strategie zu entwickeln. Heraus kam stARTup!.

Dieses fiktive Unternehmen oder Netzwerk, ganz egal wie man es sieht, sollte die Grenzen zwischen produzierenden und teilhabenden Menschen auflösen. Dabei ging es um die Möglichkeit, Kunst und Kultur nicht nur auf einer Bühne, an einem realen Ort, sondern auch in einem digitalen Zusammenhang so zu inszenieren, dass sie Menschen begeistern. Grundlage für diese Begeisterung waren kluge, sich ergänzende und helfende Netzwerke und ein „Digital Hub“ der in der Mitte zwischen Produzenten und Konsumenten als eine Art Schnittstelle und Mixer entwickelt wurde.

Die Stadtverwaltung selbst sollte als eine Art freundlicher Inkubator und Ermöglicher intensiv mit diesem stARTup! zusammenarbeiten. Hinzu kam eine eigene digitale Infrastruktur, die es technisch ermöglichte, mit spannenden, bewegenden und schönen Inhalten mindestens so erfolgreich in die Tageszeit eines Menschen einzugreifen, wie es ansonsten parasitäre Plattformen tun.

All diese Technik ist kein Zauberwerk und kein unbezahlbares Raumschiff. Diese Technik ist nur Werkzeug. Dafür bedarf es kluger Planung, Ressourcen-Zusammenlegung und eines Netzwerks, das Content gut miteinander austauscht und in einer Stadt, wie auf einer unsichtbaren Tischtennisplatte, über viele Teilhabende hin und her spielt. So vermischen sich nach und nach die Grenzen und es entsteht eine spannende Kultur-Partizipation.

Frank Tentler
Frank Tentler

ist Entwickler, Umsetzer und Dozent für Smart City ­Design. Er ist im Vorstand von stARTconference e.V., der Kulturschaffenden hilft, die Digitalisierung als Chance zu sehen.

TEILEN MIT: