Soziokulturelle Einrichtungen als guter Nachbar, Community Builder und Trainingsfeld für globale Herausforderungen?

Wie können Kultureinrichtungen mit den großen Herausforderungen der Gesellschaft wie Klimawandel, Pluralisierung kultureller Ansprüche und der sozialen und kulturellen Spaltung der Gesellschaft umgehen? Welche Lösungsansätze haben sie, wie unterscheiden sich dabei die klassischen Kultureinrichtungen von der Soziokultur? Welche besonderen Potentiale hat die Soziokultur, zu sozialem Zusammenhalt und kultureller Teilhabe im Sinne einer kulturellen Demokratie beizutragen?

Autorin: Prof. Dr. Birgit Mandel

Prof. Dr. Birgit Mandel auf dem 22. Ratschlag Stadtteilkultur, Foto: Miguel Ferraz

1. Kulturelle Teilhabe – Demokratisierung von (Hoch-)Kultur versus Kulturelle Demokratie

„Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik“, so lautete die Gründungs-Mission der Kulturpolitischen Gesellschaft 1976 in Abgrenzung zu einer enggeführten Kulturpolitik, die sich auf die Förderung von sogenannten „Hoch-Kultur-Einrichtungen“ mit Pflege kulturellen Erbes und neuer Kunstformen konzentrierte. Kulturpolitik sollte nicht nur als Kulturbetriebsförderpolitik verstanden werden, sondern auch verantwortlich sein für das gesellschaftliche und demokratische Zusammenleben. Dafür müsse Kulturpolitik danach fragen, inwiefern über eine breite kulturelle Teilhabe im Sinne einer „Kultur für alle und von allen“ (Hoffmann 1979) Demokratie gelebt werden und wie kulturelle Akteur*innen dazu beitragen können, ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben mit zu gestalten. Bei den Überlegungen der Neuen Kulturpolitik spielte die Soziokultur von Anfang an eine zentrale Rolle (vgl. u.a. Glaser 1974) als Ermöglicher im Alltag verankerter kultureller Teilhabe an Kulturformen, die über einen engen, normativen Kulturbegriff hinausweisen.

Zu konstatieren ist, dass das Credo von „Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik“ zwar im Diskurs in Deutschland bis heute aktuell ist, in der Praxis der Kulturpolitik jedoch nur sehr begrenzt eingelöst wurde. Die öffentliche Kulturförderung basiert auf einem eher engen Kulturverständnis: der größte Teil der Budgets ist fest gebunden in klassischen Kultur-Einrichtungen wie Theater, Opern, Orchester und Museen.

Die Forderung nach chancengerechter kultureller Teilhabe ist vor allem im Zuge der Diversifizierung der Bevölkerung durch Migration in den vergangenen Jahren wieder laut geworden. Dabei werden unter kultureller Teilhabe unterschiedliche Dimensionen von Partizipation verstanden: Teilhabe als Publikum und Besucher*in kultureller Angebote; Aktive künstlerisch-ästhetische und kulturelle Teilhabe als Amateur sowie Einflussnahme und Mitbestimmung über kulturelle Programme und Förderung.

Die Bemühungen, kulturelle Güter und Angebote öffentlich geförderter (Hoch-) Kultureinrichtungen für möglichst viele Bürger*innen zugänglich zu machen durch verbesserte Zugangschancen, den Abbau von Zugangsbarrieren und Vermittlungsangeboten im Sinne von Enkulturation in das von Expert*innen als wertvoll definierte, öffentlich geförderte Kulturangebot lässt sich als Demokratisierung von Kultur bezeichnen. Demgegenüber impliziert der Begriff der Kulturellen Demokratie, dass das öffentliche kulturelle Leben einer Gesellschaft von und mit allen entwickelt wird und anerkennt, dass es dabei unterschiedliche Formen von Kunst und Kultur gibt, die verschieden aber gleichwertig sind.

Soziokultur steht für die Idee der kulturellen Demokratie. Sie basiert auf einem breiten, nicht normativen Kulturverständnis, das Formen von Alltagskultur, Breitenkultur, Populärkultur, politische Kultur, Kultur der Länder ebenso umfasst wie Kunst-Kultur und diese oft interdisziplinär verbindet. Das Subjekt kultureller (Selbst-)Bildung steht im Vordergrund und seine Weiterentwicklung bzw. „Ermächtigung“. Teilhabe ist die zentrale Mission der Soziokultur und zwar oft im Sinne einer aktiven Mitwirkung an Programmen und Entscheidungen, denn ehrenamtliches Engagement gehört zur Soziokultur und die Grenzen zwischen Macher*innen und Teilnehmenden sind oft fließend. Die Verhandlung gesellschaftspolitischer Themen und das Engagement für lokale Belange im Sinne gelebter Demokratie ist zentrales Merkmal der Soziokultur.

In der Kulturförderpolitik fand die Soziokultur zwar seit den 1970er Jahren Anerkennung und Institutionalisierung in mittlerweile 566 Einrichtungen, die im Bundesverband Soziokultur organisiert sind. Allerdings ist ihr Anteil am Kultur-Budget im Vergleich zu den klassischen Kultureinrichtungen gering. Die Forderung eines der zentralen Akteure der Neuen Kulturpolitik, Alfons Spielhoff, Ende der 1970er Jahre, einige der Opernhäuser zu schließen und mit den frei gewordenen Mitteln flächendeckend soziokulturelle Einrichtungen zu unterhalten, wurde nicht eingelöst. Mit zunehmendem Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland wurde kulturpolitisch eher nach dem Prinzip einer additiven Kulturpolitik gehandelt.

2. Sich für gesellschaftliche und soziale Probleme verantwortlich fühlen – Lösungsbeiträge des Kultursektors

Foto: Miguel Ferraz

Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Corona-Pandemie, Klimakrise. Die globalen Krisen beeinflussen auch den Kultursektor und fordern diesen zugleich dazu auf, an Lösungen mitzuwirken im Sinne einer Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik.

Zentrale Herausforderungen für den Kultursektor sind:

Kulturelle Begleitung des Klimawandels

Wissen über die negativen Veränderungen des Ökosystems und entschiedenes Handeln stimmen derzeit noch nicht überein. Der konstruktive Umgang mit dem Klimawandel benötigt ganz offensichtlich auch einen kulturellen Wandel mit der Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen, die bislang stark auf schrankenlosen Konsum ausgerichtet waren. Kulturelle Einrichtungen müssen diesen Prozess pro-aktiv begleiten, indem sie selbst als Einrichtung Vorbild sind für Veränderungen. Soziokulturelle Einrichtungen sind hier Vorreiter: 43% nutzen erneuerbare Energien; bei 46% spielt Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle, 68% achten auf Fair Trade, und die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden (Statistik Soziokultur 2019 und Institut für Kulturpolitik). Und sie können mit den spezifischen Mitteln von Kunst und Kultur den Kulturwandel begleiten, indem sie über reflektierte emotionale ästhetische Erlebnisse und Erfahrungen neue Handlungsweisen symbolisch erproben, Einstellungen beeinflussen und Transformationskräfte freisetzen. Dabei muss sich auch der Kultursektor selbstkritisch hinterfragen, denn auch er war in den letzten Jahrzehnten auf permanentes Wachstum und Ausweitung der Besitzstände fokussiert.

Veränderung kultureller Interessen und Ansprüche

Kulturelle Interessen verändern und segmentieren sich zunehmend, vor allem durch Migration und neue digitale Kulturräume, in denen ganz andere Aktions- und Rezeptionsweisen ausgebildet werden. Enkulturationsprozesse sind unterbrochen und neue Generationen wachsen nicht mehr automatisch in das klassische Kulturangebot hinein (Keuchel 2009, Reuband 2019).

Traditionelle Kulturangebote erreichen schon immer nur ein begrenztes Segment der Bevölkerung: weit überdurchschnittlich höher Gebildete, ökonomisch besser Gestellte und Ältere. Kulturelle Interessen werden wesentlich durch das Elternhaus geprägt. Vor allem junge Menschen aus bildungsfernen Elternhäusern werden mit klassischen Kulturangeboten nicht erreicht (Keuchel/Wiesand 2006) und auch schulisch verpflichtende Angebote führen zumeist nicht zu einem nachhaltigen Interesse an klassischen Kulturangeboten. Hierzu bedarf es unterschiedlicher Mittler auf formaler, non-formaler und informeller Ebene (Keuchel/Larue 2012).

Um ihre Legitimität zu sichern bemühen sich die klassischen Kultureinrichtungen seit einigen Jahren aktiv mit stark erweiterten Audience Development Maßnahmen darum, neue und andere Besucher*innen zu gewinnen. Dabei zeigen Untersuchungen von Audience Development Programmen in Deutschland und international, dass es kaum gelingt, nachhaltig anderes Publikum zu gewinnen und zu binden ohne tiefgreifende Transformationen der Einrichtungen (vgl. Mandel 2013, Arts Council England 2004, Hadley 2021). „If you want to change your audience, you first have to change yourself“ – strukturelle Veränderungen klassischer Kultureinrichtungen in ihren Programmen, ihrem Personal und ihrer Mission sind notwendig, um für ein anderes, diverseres Publikum zugänglich und attraktiv zu werden.

Auch durch diese Erkenntnis entwickeln klassische Kultureinrichtungen über Marketingmaßnahmen hinaus verstärkt teilhabeorientierte Programme und Aktivitäten kultureller Bildung: So ist eine starke Zunahme der sogenannten 5. Sparte bei Stadt- und Staatstheatern zu beobachten mit outreach in den öffentlichen Raum und in Bildungseinrichtungen, Bürgerbühnen, partizipativen Projekte mit „Experter*innen des Alltags“. Obwohl es dafür, anderes als in anderen europäischen Ländern, kaum kulturpolitische Vorgaben gibt, entwickeln fast alle Stadt-und Staatstheater vielfältige teilhabeorientierte Maßnahmen. Offensichtich spüren die Einrichtungen selbst, dass die lange Zeit als selbstverständlich akzeptierte Vorstellung, der Staat habe Einrichtungen wie Theater zu finanzieren, um die Produktion anspruchsvoller Kunst vor Markteinflüssen zu schützen, als alleiniger Legitimationsmythos nicht mehr ausreicht. Zumal gesellschaftliche Integration und Diversitätsorientierung im Fachdiskurs als zentrale Herausforderung definiert werden, der sich auch öffentlich geförderte Kultureinrichtungen zu stellen hätten (Mandel 2021).

Es lässt sich also ein Trend zur „Soziokulturalisierung“ klassischer Kultureinrichtungen erkennen, allerdings wird davon das „Kerngeschäft“ der Einrichtungen bislang wenig berührt. Die Maßnahmen werden eher als add on an die Abteilung Vermittlung delegiert und sind kaum strukturell verankert. Sie sind zudem sehr stark auf jeweils spezifische Zielgruppen ausgerichtet, ohne dass sich damit die soziale Zusammensetzung des Publikums insgesamt verändern würde.

Was lässt sich über die soziale Zusammensetzung von Publikum und Teilnehmenden der Soziokulturellen Zentren sagen? Leider gibt es hier keine differenzierteren Studien, aber die letzte Statistik des Bundesverbands Soziokultur zählt wachsende Publikums- und Teilnehmerzahlen, eine hohe Altersmischung sowie ca. 30% der Besucherschaft mit Migrationshintergrund (Statistik Bundesverband Soziokultur 2019). Durch ihr breites und niedrigschwelliges Angebot und die Möglichkeit flexibler zu reagieren auf sich verändernde Interessen erreichen Soziokulturellen Zentren vermutlich ein deutlich diverseres Publikum als die klassischen Kultureinrichtungen. Gelingt es der Soziokultur dabei auch, Menschen über zielgruppenspezifische Programme hinaus zusammen zu bringen?

Der sozialen und kulturellen Spaltung der Gesellschaft entgegen wirken: Menschen zusammen bringen, die sich sonst nicht begegnen würden

Milieu-Studien verweisen auf eine zunehmend fragmentierte Gesellschaft. Dabei spielen auch digitale Filter-Blasen und politische Polarisierungen eine Rolle. Eine große Herausforderung für Kultureinrichtungen liegt darin solche Tendenzen der Abschottung in ihrer Arbeit zu überwinden. Dies gelingt den klassischen Kultureinrichtungen aufgrund ihres hohen Distinktionspotentials und der vermuteten Komplexität ihrer Gegenstände nur bedingt.

Soziokulturelle Zentren sind zumindest potentiell Orte, die inhaltlich ein breites Spektrum von alltagsnahen und für viele Menschen gleichermaßen relevanten Themen und kulturellen Aktivitäten anbieten können, und sie sind häufig niedrigschwellige Orte mit hoher Aufenthaltsqualität, wo sich Menschen treffen können. Aber auch die soziokulturellen Zentren ziehen, zumindest im Publikum ihrer professionellen Programme, ein eher homogenes Klientel an, so die Beobachtung vieler Akteur*innen im Feld.

Was sind Lösungsansätze, um Menschen über soziale, politische, kulturelle und Altersgrenzen hinweg mit Kunst und Kultur zusammen zu bringen? Die Vielfalt der Interessen in der Bevölkerung als Ressource zu begreifen und als Inspiration für Programmgestaltung und mehr noch Veränderungsprozesse in Kultureinrichtungen ist die Basis für eine milieu-übergreifende Kulturarbeit. Dabei sollte Diversität nicht auf kulturelle Herkunft reduziert werden, sondern die verschiedenen Dimensionen menschlicher Unterschiedlichkeit berücksichtigen wie Geschlecht, Alter/Generation, Bildung, soziale Herkunft, kulturelle Interessen, kosmopolitisch vs. kommunitaristisch Orientierte etc.

Notwendig ist das Überwinden eines normativen Kunst- und Kulturverständnis und die Anerkennung unterschiedlicher Kulturformen (Schlager, Volkskultur, klassische Kultur, Popkultur) als anders aber gleichwertig, einschließlich der Öffnung für populäre Interessen, die in der Bevölkerung insgesamt dominant sind. Im Rahmen von Cross-Over-Programmen, die in der Interkulturbarometer-Befragung (Keuchel 2012) als besonders attraktiv genannt wurden, können unterschiedliche künstlerisch-kulturelle Formen produktiv zusammen gebracht werden und verschiedene Anknüpfungspunkte geschaffen werden.

Themen behandeln, die alle angehen und zu denen sich jeder in Beziehung setzen kann, ist eine weitere Voraussetzung, um Gruppengrenzen zu überwinden. Wenn es darum geht, Austausch zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu schaffen, ist die soziale Dimension von Kunst und Kultur zentral. Dass man sich über Kunst begegnet, ins Gespräch kommt, gemeinsam isst und trinkt, ist vor allem in klassischen Kulturprogrammen, die sich auf kontemplative Rezeption konzentrieren, oft verloren gegangen, womit ein ein wichtiger Aspekt der Attraktivität von Kulturveranstaltungen fehlt.

Anregend ist in diesem Kontext das Konzept des Community Building, das im anglosächsischen Raum als neues Narrativ für Kultureinrichtungen entwickelt wurde. Dabei geht es darum, sich nicht nur als Ort für die Präsentation von Kunst und Kultur zu verstehen, sondern sich mitverantwortlich zu fühlen für soziale Anliegen und die Lösung gesellschaftlicher Probleme in der Nachbarschaft und das gute Zusammenleben in einer Stadt/Stadtteil in Verantwortungspartnerschaften mit anderen kommunalen Playern. „How are the lives of members of the community made better by the work you do?“ (Borwick 2012), das müsse die zentrale Frage für Kultureinrichtungen im Sinne eines „guten Nachbars sein.

Ein anderes Narrativ für die Transformation von Kultureinrichtungen im Sinne von Gemeinschaftsbildung und Berücksichtigung von Diversität ist das der „Dritten Orte“. Dabei lässt sich unterscheiden zum einen in „Third Places“ im Sinne des amerikanischen Stadtsoziologen Oldenbourg als „Home away from home“ (1999), indem Kultureinrichtungen niedrigschwellige gastfreundliche, öffentliche Orte bieten, wo sich Menschen spielerisch begegnen können. Zum anderen das im Kontext postkolonialer Diskurse entwickelte Konzept des „Third Space“ von Homi Bhaba (1997), in dem es darum geht, dass Menschen unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft einen gemeinsamen symbolischen dritten transkulturellen Ort gestalten, in denen sich klassische Hierarchien auflösen (Bhaba).
Milieuübergreifende kulturelle Begegnungen können dazu beitragen, bestehende Stereotype aufzubrechen, Verständnis für andere Lebenswelten schaffen und neue Perspektiven auf die Welt entwickeln.

3. Die Funktionalisierung der Künste für soziale und politische Zwecke?

Foto: Miguel Ferraz

Aber geht es dann noch um Kunst? Oder ist diese nur Mittel für andere soziale oder politische Zwecke? Die Abwehr einer Funktionalisierung der Künste ist tief verankert im deutschen Kunstdiskurs und auch im Grundgesetz: „Kunst und Wissenschaft sind frei“ (GG Art 5, Abs. 3); ganz anders als z.B. in angelsächsischen Ländern, wo öffentlich geförderte Kunst-Einrichtungen auch nachprüfbar nützlich sein sollen für Bildung, sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Entwicklung.

Gleichzeitig werden auch in Deutschland mit Blick auf die Legitimierung öffentlicher Kulturförderung immer wieder sehr hohe gesellschaftliche Wirkungserwartungen an Kunst und Kultur formuliert, ohne dass diese konkretisiert und überprüft werden. Die Kunstfreiheitsgarantie bietet den Kulturreinrichtungen eine weitreichende Autonomie. Dabei hat die künstlerisch-wissenschaftliche Qualität aus einer professionellen fachspezifischen Perspektive in den klassischen Kultureinrichtungen eine klare Priorität gegenüber anderen gesellschaftlichen Ansprüchen und Zielen.

Die Legitimation der Soziokultur beruht demgegenüber dezidiert auf deren individuellen und gesellschaftlichen Wirkungspotentialen. Dabei spielen auch in der soziokulturellen Arbeit die Künste eine wichtige Rolle, aber oft im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs.

„It takes art to make life more important than art“ – Kunst kann autonom handeln und gleichzeitig Katalysator für gesellschaftliche Problemlösungen sein. Die Künste können sich sozial und gesellschaftlich engagieren, ohne dabei ihre Autonomie zu verlieren. Sie entfalten ihre Wirkung gerade durch ihren genuin künstlerischen Mittel: Zweckfreiheit, Spiel, Utopie Mehrdeutigkeit und Bedeutungsüberschuss, Ambiguität, die Verbindung von Ästhetik, Emotion, Kognition. Genau diese Eigenschaften machen die Künste so wirksam als „Spielfeld“ für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse, in denen es nicht die eine Wahrheit gibt und man auch Widersprüche aushalten kann im Prozess des gemeinsamen Erlebens. Joseph Beuys Mission der „sozialen Plastik“, in der „jeder Mensch ein Künstler“ ist und mit gemeinschaftlich entwickelten Ideen an der Gestaltung der Gesellschaft bzw. der lokalen Umgebung im Sinne direkter Demokratie teilhat, steht für die Idee einer sozial engagierten Kunst, wie sie für die Soziokultur instruktiv sein kann.

Fazit

Foto: Miguel Ferraz

Das Prinzip Soziokultur setzt sich zunehmend in der öffentlich geförderten Kultur durch. Die „Soziokulturalisierung“ der öffentlich getragenen (Hoch-) Kultureinrichtungen wird mehr noch zu einer Voraussetzung für deren zukünftige Legitimation und Relevanz.

Zugleich war und ist die Arbeit der soziokulturellen Zentren selbst im Vergleich zur klassischen Kultur unterbewertet in der öffentlichen Kultur-(förder-)politik. Immerhin aber wurde die Soziokultur im aktuellen großen Bundesförderprogramm „Neustart Kultur“ entsprechend anerkannt, was auch ein Hinweis auf ihre wachsende Wertschätzung in der staatlichen Kulturpolitik sein könnte. Auch Förderprogramme „Soziale Stadt“ wie „Utopolis. Soziokultur im Quartier“, die dezidiert danach fragen, wie Kunst und Kultur für das soziale Zusammenleben genutzt werden können, zeugen von der wachsenden Bedeutung der Soziokultur.

Der geringere Professionalisierungs- und Institutionalisierungsgrad der Soziokultur kann zugleich auch eine Stärke sein, denn das ermöglicht eine flexiblere thematische Reaktionsfähigkeit und Raum für die Einbindung neuer Akteur*innen und Initiativen.

Und zugleich ist anzumerken, dass auch viele soziokulturelle Zentren verfestigte Strukturen entwickelt haben, die Transformations-Prozesse angesichts neuer gesellschaftlicher Voraussetzungen verlangen: So erweist sich die pro aktive Steuerung des Generationenwechsels und der Umgang mit nachlassendem verbindlichen ehrenamtlichem Engagement jüngerer Generationen als Herausforderung.

Zentrale Aufgabe der Kultureinrichtungen und vor allem der Soziokultur ist es, in einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) und medialen Filterbubbles die Zone des Gemeinsamen zu stärken. Nachhaltiges Handeln für ein gutes Zusammenleben braucht mehr Gemeinschaftlichkeit und weniger Individualismus, und es startet im Lokalen.

Während die klassischen Kultureinrichtungen sich schwer tun mit Veränderungen aufgrund ihre traditionellen Strukturen und Hierarchien, ihres gewachsenen Kanons, den Ansprüchen des Fachpublikums und ihres homogenen Stammpublikums aus den hochgebildeten und in der Regel besser gestellten Bevölkerungsgruppen, haben die Soziokulturellen Einrichtungen deutlich bessere Ausgangsbedingungen sich im Sinne einer Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik zu engagieren. Denn das Zusammenbringen von ganz unterschiedlichen Menschen auf der Basis eines breiten und zugleich sozial und politisch engagierten Kulturverständnis ist ihr Kerngeschäft und zwar seit ihrer Gründung und nicht erst seit es Förderprogramme für diversitätsorientierte Kulturarbeit gibt. Die Agenda für die Soziokultur wird nicht von außen vorgegeben, sondern kommt aus der Zivilgesellschaft selbst. Kollektive Führungsmodelle, Einbezug unterschiedlicher Perspektiven im Personal und Ehrenamt, wie sie aktuell von der klassischen Kultureinrichtungen gefordert werden, zeichnet soziokulturelle Arbeit schon immer aus. Insofern sind die soziokulturellen Einrichtungen gut aufgestellt, um einen Beitrag zu Lösung globaler gesellschaftliche Herausforderungen zu leisten.

Birgit Mandel
Birgit Mandel

ist Direktorin des Instituts für Kulturpolitik an der Universität Hildesheim, Professorin für Kulturvermittlung und Kulturmanagement sowie Vizepräsidentin der Kulturpolitischen Gesellschaft.

Literatur:

  • Mandel, Birgit (2021): Legitimität der Stadt-, Staats- und Landestheater im Strukturwandel der Kulturnachfrage. In: Mandel, Birgit/Burghardt, Charlotte/Nesemann, Maria (2021): Das (un)verzichtbare Theater? Strukturwandel der Kulturnachfrage als Auslöser von Anpassungs- und Innovationsprozessen an öffentlich getragenen Theatern in Deutschland. Universität Hildesheim. S. 6 – 32

Quellen:

  • Arts Council England/ Morton-Smith (2004): Not for the Likes of You‘, Phase two, Final Report, How to reach a broader audience. Edinburg.
  • Bhaba, Homi K. (1997): Verortungen der Kultur. In: Bronfen, Elisabeth/ Benjamin Marius/ Theres
    Steffen (Hrsg.) (1997): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen
    Multikulturalismusdebatte, Tübingen, S. 123-148.
  • Borwick, Dough (Hg.) (2012): Building Communities, not Audiences. The future of the arts in the United States, Winston-Salem
  • Crane, Liz (2012): The arts as community citizen: The value of being a good neighbor. In: Borwick (Hg.): Building Communities, not Audiences. The future of the arts in the United States, Winston-Salem, S. 83 – 91.
  • Glaser (1974): Die Wiedergewinnung des Ästhetischen und die Soziokultur
  • Hoffmann, Hilmar (1979): Kultur für alle, Frankfurt a.M.: Fischer TB
  • Mandel, Birgit (2013): Interkulturelles Audience Development. Zukunftsstrategien für öffentlich geförderte Kulturinstitutionen. Bielefeld. Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld, S. 115 – 124
  • Mandel, Birgit (2020): Theater in der Legitimitätskrise? Interesse, Nutzung und Einstellungen zu den staatlich geförderten Theatern in Deutschland – eine repräsentative Bevölkerungsbefragung. Hildesheim Universitätsverlag. https://dx.doi.org/10.18442/077
  • Mandel, Birgit/Burghardt, Charlotte/Nesemann, Maria (2021): Das (un)verzichtbare Theater? Strukturwandel der Kulturnachfrage als Auslöser von Anpassungs- und Innovationsprozessen an öffentlich getragenen Theatern in Deutschland. Ergebnisse eines DFG Forschungsprojekt Krisengefüge in den Darstellenden Künsten. Universität Hildesheim. Open access: https://doi.org/10.18442/192
  • Keuchel, Susanne/Larue, Dominic/ Zentrum für Kulturforschung (2012a): Das 2. Jugend-KulturBarometer. »Zwischen Xavier Naidoo und Stefan Raab…«, Köln
  • Keuchel, Susanne/ Zentrum für Kulturforschung (2012b): Das 1. InterKulturBarometer. Migration als Einflussfaktor auf Kunst und Kultur, Köln
  • Reuband, Karl-Heinz. 2018. „Kulturelle Partizipation in Deutschland“. Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18 – Thema: Welt. Kultur. Politik. Bielefeld: transcript: 377–393
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