Krisen – zwischen neueröffneten Zukünften und dem nostalgischen Wunsch nach Rückkehr

Die radikale Verunsicherung der Zukunft in Krisen ist problematisch, weil fehlende Zukunftsvorstellungen reale Konsequenzen in der Gegenwart haben. Wovon aber hängt es ab, ob Krisen zu Fortschritt und Erneuerung führen oder zu Nostalgie und einer Flucht in die Vergangenheit? Und wovon hängt es ab, welche Zukunftsnarrative sich durchsetzen? Ein Blick auf Krisen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive.

Autorin: Dr. Lisa Suckert

Dr. Lisa Suckert bei ihrer Keynote auf dem Ratschlag, Foto: Miguel Ferraz

Die Soziologie ist seit jeher eine „Krisenwissenschaft“. Entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts, im Schatten der industriellen Revolution mit all ihren Umbrüchen und Verwerfungen, zielt die Soziologie seit ihren Anfängen darauf, krisenhafte gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen. Die Soziologie und mit ihr die modernen Sozialwissenschaften bieten einen breiten Fundus von unterschiedlichsten Perspektiven auf das Phänomen der Krise.

Krise als radikalisierte Unsicherheit der Zukunft

Ich möchte vorschlagen, Krisen als Situationen zu verstehen, in denen sich die Unsicherheit der Zukunft radikalisiert. Zwar ist die Zukunft immer unsicher und kann nicht mit Bestimmtheit vorhergesagt werden. In Krisenzeiten verschärft sich diese Unsicherheit aber in zweifacher Weise. Einerseits sind Krisen unerwartete Ereignisse, sie durchkreuzen unsere Erwartungen und Pläne. In Krisen kann die Zukunft nicht wie geplant stattfinden, die Akteure wissen nicht, was sein wird. Andererseits, und womöglich entscheidender, ist jedoch der Umstand, dass in Krisensituationen auch die Grammatik in Frage gestellt wird, auf deren Basis wir uns die Zukunft überhaupt vorstellen können. Wir sprechen von Krisen – und nicht etwa von Unfällen, Fehlern oder Irregularitäten – wenn unser Erleben fundamentale Gewissheiten, wichtige Prinzipien und Kausalitätsvorstellungen herausfordert. Unter Krisenbedingungen fällt es schwer, sich überhaupt eine Zukunft vorzustellen.

Dr. Lisa Suckert auf dem Ratschlag 2022, Foto: Miguel Ferraz

Geteilte Zukunftsvorstellungen

Die radikale Verunsicherung der Zukunft in Krisenmomenten ist problematisch, weil fehlende Zukunftsvorstellungen reale Konsequenzen in der Gegenwart haben. Gesellschaftlich geteilte Zukunftsvorstellungen orientieren, koordinieren und motivieren individuelles und kollektives Handeln. Sie stellen den Treibstoff dar, der moderne Gesellschaften am Laufen hält. Der Umstand, dass dieser Treibstoff in Krisenzeiten knapp wird, trägt zu vielen der sozialen, politischen und ökonomischen Verwerfungen bei, die mit Krisen einhergehen.

Eine Perspektive, die Krisen als Situationen der radikalen Verunsicherung der Zukunft begreift, legt allerdings auch nahe, was nötig ist, um eine Krise zu überwinden: Überzeugende, alternative Narrative, wie es mit der Zukunft weitergehen kann. Und genau hier liegt die Crux. Da Krisenmomente eine Erneuerung von Zukunftsvorstellungen erfordern, können sie als Wendepunkte fungieren, als Momente, in denen zuvor undenkbarer Wandel oder gar Fortschritt möglich wird. Hierfür gibt es zahlreiche historische Beispiele. Gleichwohl, ist eine solche Entwicklung kein Selbstläufer oder liegt in der „Natur“ der Krise. Denn genauso häufig befördern Krisen das genaue Gegenteil: Einen Wunsch nach Rückkehr, in eine „normale“ Welt, eine Welt, wie sie einst war – oder zumindest imaginiert wird. Krisen-Erfahrungen befördern Nostalgie. Vor diesem Hintergrund muss uns nach zwei Krisen-Jahrzehnten auch die Vielzahl politischer Bewegungen, deren zentrales Zukunftsversprechen es ist, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, nicht verwundern.

Welche Narrative setzen sich durch?

Von was hängt es aber nun ab, ob Krisen zu Fortschritt und Erneuerung führen oder zu Nostalgie und einer Flucht in die Vergangenheit? Wovon hängt es ab, welche Zukunftsnarrative sich durchzusetzen vermögen? Die Soziologie kennt eine Vielzahl von Faktoren, die darauf Einfluss haben: Institutionen, Machtverhältnisse und Koalitionen, Ressourcen, politisches und diskursives Geschick; aber auch die Erfahrungen und Enttäuschungen, die eine Gesellschaft erlebt hat, ihr Vertrauen in kollektive Handlungsfähigkeit, sowie Ausmaß und Dauer einer Krise spielen eine Rolle.

Ein nicht zu vernachlässigender Faktor ist schließlich auch die Kultur. Es spielt eine Rolle, auf welchen Vorrat an kulturellen Rahmungen der Zukunft eine Gesellschaft zurückgreifen kann. Sind das nur nostalgische Ideen, oder gibt es auch Vorstellungen von Fortschritt? Gibt es nur eine dominante Vorstellung von der Zukunft, oder gibt es viele alternative Bilder, wie Zukunft aussehen könnte?

Kultur kann gesellschaftliche und ökonomische Krisen nicht verhindern. Aber sie kann einen Beitrag leisten, um Krisen fruchtbar und zukunftsgerichtet zu überwinden.

Dr. Lisa Suckert
Dr. Lisa Suckert

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, wo sie u.a. den Zusammenhang von Zukunftserwartungen und Krisen aus wirtschaftssoziologischer Perspektive erforscht.

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