Über Teilhabe, Teilnahme und Teilgabe – und das Recht, nicht mitmachen zu müssen

Auf der bundesweiten Fachtagung „Illusion Partizipation – Zukunft Partizipation“ Mitte November 2016 hielt Prof. Dr. Max Fuchs von der Universität Duisburg-Essen einen Vortrag zu „Partizipation als Reflexionsanlass“. In diesem Vortrag reflektierte er relevante Punkte zur Erörterung von Theorie, Konzeption und Geschichte des Partizipationsbegriffs. Mit diesen Punkten sollte man sich auseinandersetzen, wenn man die „Pathosformel“ Partizipation in der praktischen Arbeit verwendet. Das stadtkultur magazin veröffentlicht den Vortrag in gekürzter Form.

Autor: Prof. Dr. Max Fuchs

Teilhabe als Menschenrecht

Wer an einen Teil denkt, muss zugleich an das Ganze denken, zu dem dieser Teil gehört. Wer diesen Teil haben will (Teilhabe), muss ihn sich zuerst nehmen (Teilnahme). Teilnahme ist also der Teilhabe vorgelagert. Denkt man diesen Ansatz weiter, so muss man berücksichtigen, dass der gewünschte Teil vermutlich bereits in den Händen anderer ist. Das bedeutet, dass das, was man haben will, man anderen nehmen muss, und diese bereit sein müssen, es auch wegzugeben.

Neben dem Teilnehmen und dem Teilhaben geht es also auch um das Teilen, genauer gesagt um das Aufteilen, und noch genauer: um eine Veränderung der bisherigen Aufteilung. Dies macht deutlich, dass bei diesem Prozess mit Widerstand derer zu rechnen ist, die etwas weggeben müssen. Denn man hat die durchaus berechtigte Angst, dass man nach diesem Prozess weniger hat als vorher.

Ist es daher zu erwarten, dass dieser Prozess freiwillig und harmonisch geschieht? Vermutlich nicht. Aus diesem Grund hat man Rechte formuliert, die diesen Prozess regulieren sollen. Es gibt dabei nicht nur einfache Rechte, sondern Teilhabe ist sogar einer der am höchsten abgesicherten Begriffe: Er gehört zum Bereich der Menschenrechte, Teilhabe ist ein Menschenrecht. […]

Teilhabe und Teilgabe

Die im ersten Teil vorgenommene einfache Analyse des Prozesses des Teilnehmens lässt sich fortführen: Eine erste Überlegung greift die Tatsache auf, dass man als Teil immer Teil eines Ganzen ist. Dieses Ganze ist kein regelloses Chaos, sondern eine Struktur, eine Ordnung, ein Regelsystem, in das man sich als Einzelner einordnen will und muss. D.h. mit der Teilnahme und der Teilhabe ist die Bereitschaft verbunden, das vorliegende Regelsystem zunächst einmal zu akzeptieren.

Dieses zusammenhängende Ganze ist zudem eine Kooperationsgemeinschaft. […] Kooperation bedeutet immer auch, sich einzulassen auf den anderen, auf dessen legitime Interessen. Und daher ist Kooperation immer auch mit erheblichen Veränderungsprozessen der beiden Partner verbunden. Insbesondere bedeutet Kooperation, dass man nicht alleine seine eigenen Ziele durchsetzen kann, sondern dass man sich mit dem Partner auf gemeinsame Ziele einigen muss. Nur in Ausnahmefällen ergibt sich dabei, dass beide Seiten ihre Vorstellungen in vollem Umfang in dem Kooperationsprojekt realisieren können.

All dies gilt daher auch für den Prozess der Teilhabe: Man wird davon ausgehen müssen, dass beide Seiten zwar legitime Ziele haben, dass aber durch die Integration in das Ganze sich auf beiden Seiten erhebliche Veränderungen ergeben. Insbesondere bedeutet dies, dass derjenige, der teilnehmen und seine Teilhabe realisieren will, auch etwas geben muss: Teilhabe ist auf beiden Seiten keine Einbahnstraße, sondern es geht um Geben und Nehmen. Daher übernehme ich den Vorschlag von Hanne Seitz, dass komplementär zur Teilhabe auch an Teilgabe gedacht werden muss.

Damit eröffnen sich aber auch neue Fragestellungen: Denn wenn jemand etwas geben soll – das wurde bereits oben angedeutet – dann muss er das wollen oder er muss es müssen. Wenn es freiwillig geschieht, dann braucht man Ziele, die man akzeptiert und die gute Gründe für das Geben sind. Falls es nicht freiwillig geschieht, wird man damit rechnen müssen, dass man erhebliche Widerstände zu überwinden hat. […]

Teilhabe als Methexis

Das Wort Partizipation hat bekanntlich lateinische Wurzeln. Bei allen lateinischen Fachbegriffen lohnt es sich, danach zu fragen, ob es griechische Vorläufer gibt. Die gibt es in diesem Fall in der Tat, nämlich in dem Begriff der Methexis. Dahinter steht folgende Überlegung: In der platonischen Philosophie sind es ewige Ideen, die das Wesen der Realität ausmachen. Das Wissen des Menschen entsteht dadurch, dass er Anteil hat an diesen ewigen Ideen. Pädagogik besteht daher entsprechend der sokratischen Methode darin, diese möglicherweise verborgenen Ideen ans Tageslicht zu bringen. Dies ist es, was die Hebammenkunst des Sokrates – die Mäeutik – beschreibt.
Im Mittelalter schloss man sich diesem Gedankengang an – mit einer wichtigen Veränderung: Die ewige Idee, die das Tragende der Welt ist, ist Gott. Und auch hier besteht der Anteil des Menschen an der Welt darin, dass er Anteil an Gott hat.

Diese religiös-theologische Erklärung des Seins des Menschen in der Welt durch einen Bezug zu Gott wurde im Zuge der Neuzeit durch den Prozess der Säkularisierung obsolet. Als Ersatz für diese Verbindung zu ewigen Ideen oder zu Gott formulierte man daher Rechte und insbesondere Menschenrechte. Man kann daher die Menschenrechte – quasi als funktionales Äquivalent der antiken und der mittelalterlichen Methexis – als Säkularisierung eines ehemals theologisch-religiösen Ansatzes begreifen. […]

Im Hinblick auf die Partizipation findet sich dieser Gedanke bei all den Ansätzen, die davon ausgehen, dass Partizipation nur dann gelingt, wenn derjenige, der partizipieren will, sich nicht nur oberflächlich das Ziel des Ganzen, in das er aufgenommen werden soll, zu eigen macht, sondern geradezu für dieses Ziel „brennt“.

Gründe für die Teilhabe

Wie oben angedeutet, braucht der Mensch nicht bloß Gründe für eine Teilhabe, sondern insbesondere auch Gründe für die Teilgabe, also für das, was er möglicherweise aufgeben muss. Hierfür kann man unterschiedliche Begründungen anführen. Eine erste Begründung besteht etwa darin, dass man aus Überzeugung geben will. […]
Nun sind vermutlich die wenigsten bereit, freiwillig etwas wegzugeben. Realistischer ist vielmehr die Annahme, dass man sich einen Nutzen davon verspricht, wenn man etwas weggibt. Ein solcher Nutzen muss dann auch kalkulierbar sein. […]

Ein wichtiges Grundlagenpapier zur Partizipation hat etwa das Bundesjugendkuratorium im Jahre 2006 veröffentlicht (BJK 2006). Das Kernargument dieses Papieres, warum es für den Einzelnen sinnvoll ist, partizipieren zu wollen, besteht in der Selbstwirksamkeit: Man muss spüren (und zwar auf beiden Seiten), es bringt mir etwas, wenn ich partizipiere, es wird eine Wirkung meiner Partizipation sichtbar, die mich spüren lässt, dass ich für das Ganze eine Bedeutung habe. Offensichtlich ist dieser Gedanke mit so wichtigen Begriffen wie „Anerkennung“ und „Wertschätzung“ verbunden. […]

Partizipation und Widerständigkeit

Es gibt allerdings auch die andere Seite, dass man nämlich zum Mitmachen gezwungen wird, ohne dass man partizipieren möchte. Beispiele in der Geschichte waren etwa die Zwangsmitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen. Widerständigkeit besteht hier darin, sich gegen eine solche Aufforderung zur Wehr zu setzen, also nein sagen zu können (Fuchs 2016).

Widerständigkeit kann man allerdings auch erleben, wenn man sich in dem Ganzen, das einen aufgenommen hat, letztlich mit seinen Ideen nicht oder nur zum Teil durchsetzen kann. Hier zeigte sich, dass zur Partizipation ein erhebliches Maß komplexer Persönlichkeitsdispositionen gehört: Kompromissfähigkeit, Empathie, die Bereitschaft, Interessen anderer als legitim zu respektieren. Es gehört zwar einerseits die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen dazu, allerdings muss auch berücksichtigt werden, dass es in jeder demokratisch organisierten Gesellschaft auch einen Minderheitenschutz geben muss. Man muss zudem in der Lage sein, Abstriche von seinen eigenen Zielen und Vorstellungen zu machen. Insgesamt geht es darum, Mehrheiten zu suchen und Konflikte auszuhalten. […]

Partizipation und Überforderung

Einen wohlmeinenden Schutz vor einer möglichen Überforderung habe ich bereits oben dort angesprochen, wo man Ausnahmen von der Gültigkeit der Menschenrechte machen wollte: Man will doch die Frauen, die Kinder, die Menschen mit Behinderung nur vor einer Überforderung schützen, die durch die jeweilige Partizipation entstehen könnte. Dass dies nicht rechtens ist, ist der Inhalt der entsprechenden völkerrechtlich gültigen Konventionen.

Trotzdem kann es auch jenseits dieser Ausschlussbemühungen zu einer Überforderung kommen. Man denke etwa an Betriebe, in der es eine hohe Kultur der Mitbestimmung gibt. Dies kann dazu führen, dass nicht bloß alle immer alles wissen wollen, man will auch über alles mitreden und vor allen Dingen alle Entscheidungen mittreffen. An dieser Stelle kommt das Problem der Verantwortlichkeit ins Spiel: Man muss mögliche Sanktionen mittragen, wenn man falsche Entscheidung getroffen hat. An dieser Stelle schwindet gelegentlich die Bereitschaft zur Partizipation. […]

Was ist die Lösung in einer solchen Situation? Der Philosoph Martin Seel (2002) hat ein Buch mit dem Titel „Sich bestimmen lassen“ geschrieben. Er bezog dies zwar auf ästhetische Kontexte, doch gilt dies auch für viele Fälle im Alltag: Kein Mensch kann alle seine Lebensvollzüge vollständig kontrollieren. Er muss viele Regeln einfach hinnehmen und Vertrauen in die Institutionen haben, in die er sich begibt.

Man denke etwa an einen Patienten, der sich in einem Krankenhaus operieren lassen will. Vertrauen ist also ein wichtiges Prinzip, da es davon entlastet, alles kontrollieren zu wollen. Vertrauen kann man allerdings missbrauchen, wie man etwa an den Missbrauchsskandalen in der Odenwaldschule erkennen kann.

Daher ist es eine Bringschuld einer Organisation, die Vertrauen von ihren Nutzern beansprucht, ständig zu überprüfen, inwieweit sie ein solches Vertrauen auch verdient.

Partizipation und die Ambivalenz der Gleichheit

Neben Freiheit ist Gleichheit ein zentrales Prinzip einer modernen demokratischen Gesellschaft. Gleichheit bedeutet, dass alle das gleiche Recht zur Teilhabe haben. Dies ist etwa ein fundamentales Prinzip in der Rechtsprechung, bei der allzu lange Standesunterschiede zu einer Ungleichbehandlung geführt haben. Allerdings muss man sehen, dass sich bei aller Gleichbehandlung die betreffenden Akteure mit unterschiedlichen Ressourcen an der Partizipation beteiligen. Zudem tritt immer wieder der Fall auf, dass eine Gleichbehandlung von Ungleichem zu Ungerechtigkeiten führt. […]

Wieviel Gemeinsamkeit brauchen wir?

[…] Seriöser sind die Vorstellungen des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, der darauf hinweist, dass zwar das Grundgesetz die verbindliche Basis unseres Zusammenlebens ist, dass aber die formale Einhaltung rechtlicher Regeln nicht genügt, damit eine Integration  – und damit eine Partizipation derer, die diese Integration haben wollen – als gelungen betrachtet werden kann. Es muss noch etwas dazu kommen, etwa eine geteilte Grundüberzeugung, die das Ganze zusammenhält. […] Das zentrale Problem besteht hierbei darin, zu definieren, was dieses Zusätzliche ist, das zu der Akzeptanz des Grundgesetzes dazukommen muss, damit die Partizipation und Integration gelingen. Ist es zu wenig, dann besteht die Gefahr einer bloß formalen Teilhabe, verlangt man aber zu viel, dann schießt man offensichtlich über das Ziel hinaus.

Der vollständige Text steht auf der Internetseite Kubi-Online zum Herunterladen bereit:
www.kubi-online.de/artikel/partizipation-reflexionsanlass

VERWENDETE LITERATUR
Bundesjugendkuratorium (BJK) (2006): Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Bonn; Bundeszentrale für politische Bildung (2004): Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen. Bonn; Fuchs, Max (2001):  Persönlichkeit und Subjektivität. Opladen: Leske und Budrich; Fuchs, Max (2011): Leitformeln und Slogans in der Kulturpolitik. Wiesbaden: VS; Fuchs, Max (2016): Das starke Subjekt. Lebensführung, Widerständigkeit und ästhetische Praxis. München: Kopaed. (i.V. 2016); Gerhardt, Volker (2007): Partizipation. Das Prinzip der Politik. München: C. H. Beck; Kaufmann, Franz Xaver (1997): Herausforderungen des Sozialstaates. Frankfurt/M.: Suhrkamp; Pervin, Lawrence (2000): Persönlichkeitstheorien. München/Basel: Reinhardt; Seel, Martin (2002): Sich bestimmen lassen. Frankfurt/M.: Suhrkamp; Wesel, Uwe (2010): Geschichte des Rechts in Europa. München: Beck.

TEILEN MIT: