Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Meinung geändert? Erinnern Sie sich? Wie kam es zu dieser Veränderung? Was hat Sie bewegt und letztendlich umgestimmt? Claudine Nierth von Mehr Demokratie e.V. hielt die Keynote und leitete anschließend einen darauf aufbauenden Workshop auf dem Ratschlag.
Autorin: Claudine Nierth

So verschieden die Menschen sind, so individuell sind auch ihre Meinungen. Meinungen gehören zu uns wie unsere Gedanken. Meistens werden sie ein Teil unserer Identität. Wir ändern sie nur sehr selten und nur, wenn Menschen oder Texte unseres Vertrauens uns bewegen.
Wenn es also so selten vorkommt, dass wir unsere Meinung ändern, wie kommen wir dann darauf, dass wir die Meinung anderer ändern können? Aus der Forschung zur Meinungsbildung weiß man: Wir nehmen eher Informationen auf, die unsere Meinung bestätigen. Und: Je mehr wir mit der Meinung des Gegenübers konfrontiert werden, desto mehr beharren wir auf unserer eigenen Position.
Die Distanz entsteht also in uns. Polarisierung entsteht, weil ich mich abwende. Je mehr die Meinung der anderen von der eigenen abweicht, desto mehr gehen wir auf Abstand. Es kann sogar so weit gehen, dass wir Meinungen und Haltungen verachten. Aber können wir auch Menschen verachten? Ist die Würde des Menschen antastbar?

Was machen wir, wenn wir mit einigen Menschen nicht mal mehr die Demokratie teilen wollen? Kann es sich die Demokratie leisten, zwanzig oder dreißig Prozent der Menschen von sich auszuschließen, wo demokratische Teilhabe doch ein Grundrecht ist?
Und schon sind wir mittendrin im Dilemma. Mitten in der Krise! Egal welches Thema – jeder versucht so schnell wie möglich, sich mit seinesgleichen zu verbünden. Jeder möchte sich auf die richtige Seite des Grabens stellen und würde der gegenüberliegenden Seite am liebsten die Existenzberechtigung absprechen.
Ich muss hier keine Beispiele nennen, oder? Seit dem Umgang mit der Pandemie, mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, mit dem Zuwachs der Migration, mit dem Nahostkonflikt, mit dem Klimawandel und so weiter, weiß jeder aus seinem Umfeld, wie schwer es ist, sich zu einer anderen Position zu bekennen als die der liebgewonnenen Freunde, Familienmitglieder, Nachbar*innen oder Kolleg*innen. Lieber nichts sagen, als das Falsche zu riskieren. Das sind die Risse und Brüche in unserem Vertrauen in die Demokratie. Wir leben zunehmend in einer Demokratie des Rückzugs und der Abneigung.

Doch wer die Demokratie heute stärken will, der sollte sich nicht nur mit seinesgleichen demonstrierend auf der Straße treffen. Wer die Demokratie heute stärken will, der sollte da hingehen, wo es unangenehm ist. Jeder sollte jeden Tag einmal seine eigene Komfortzone verlassen und sich in die Schuhe eines anderen Menschen stellen. Mal in die der Verkäuferin an der Supermarktkasse, mal in die des Landwirts auf dem Acker, mal in die der alleinerziehenden Mutter oder in die des Politikers. Demokratie ist der Rahmen, in dem wir unsere unterschiedlichen Interessen miteinander aushandeln.
Heute stärken wir die Demokratie, indem wir ihre Werte täglich erleben. Erinnern Sie sich an eines ihrer letzten demokratischen Erlebnisse? War es die letzte Wahl oder erst gestern im Meeting mit den Kolleg*innen? Demokrat*innen sind wir nicht einfach, Demokrat*innen müssen wir werden. Jeden Tag ein bisschen mehr. Jeder Mensch hat demokratische Veranlagungen – so wie er auch Muskeln hat. Doch wenn wir sie nicht nutzen und trainieren, bleiben sie schlaff. Die Fähigkeit, zuhören zu können, ist so ein Muskel. Die eigene Meinung zu hinterfragen auch.
Wer den Wert der Demokratie kennt, weil er ihn ständig erfährt, der wird sie erhalten wollen. Darauf kommt es an. So wurden Mehr Demokratie e.V. unter anderem von der Landesregierung Brandenburg beauftragt, in Dörfer und Gemeinden zu gehen, wo die Menschen nicht mehr miteinander reden und sich verstummt zurückziehen. Und warum gerade wir? Weil wir das Dialogformat „Sprechen & Zuhören“ entwickelt haben, das sich unterscheidet: Wir fragen die Menschen nicht, was sie über ein Thema denken, sondern wie es ihnen damit geht. Das ist ein kleiner, aber sehr erheblicher Unterschied. Werden die Menschen danach gefragt, was sie denken, reden sie meist über andere Menschen und deren Erwartungen. Fragen wir aber, wie es ihnen geht, reden sie über sich und ihre Bedürfnisse.

Heute bieten wir „Sprechen & Zuhören“ bundesweit an und jeden ersten Mittwoch im Monat auch online. Und wir schulen Menschen, dieses Format zu moderieren, damit es möglichst vielen nützt. Wir haben ein einfaches Gesprächsformat entwickelt, das die Demokratie-Muskeln aktiviert und Menschen einander näherbringt.
Dieses Format funktioniert gut, weil wesentliche Punkte berücksichtigt werden, wie zum Beispiel:
- Jede*r akzeptiert die Meinung des*der anderen und versucht, sie nicht zu ändern.
- Jede*r spricht nur über sich und wie es ihr*ihm mit dem Thema geht.
- Jede*r beobachtet sich selbst beim Zuhören.
- Es wird nicht unterbrochen, nicht kommentiert.
- Es gibt klare Moderationsregeln, die Sicherheit bieten.
Diese Punkte ermöglichen Vertrauen. Daraus entstehen Räume des Interesses. Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr sich die Menschen nach Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Verortung sehnen und sie in diesen Dialogen wieder erleben. Zusammenhalt ist kein rationales Ziel. Zusammenhalt ist ein Gefühl, das entsteht durch gemeinsame Erfahrungen.
Demokratie besteht aus Strukturen, Regeln und Institutionen, aber auch aus der Kultur und den Umgangsformen der Menschen. Unsere Demokratie ist heute 75 Jahre alt und darf sich weiterentwickeln, um die Erwartungen zu erfüllen. Oder nicht?
Bis heute bin ich überzeugt, dass die Demokratie die einzige Möglichkeit ist, die größtmögliche Zufriedenheit aller Menschen herzustellen. Und solange sie das nicht schafft, müssen wir die Demokratie weiter demokratisieren. Heute verwende ich oft das Bild einer Skala von eins bis zehn. Jetzt befindet sich unsere Demokratie vielleicht auf der Stufe sechs. Aber wie kommen wir auf Stufe sieben oder acht? Wie kann sie sich weiterentwickeln?
Ohne uns, ohne Dich wird es nicht gehen. Die Demokratie braucht uns!

Claudine Nierth
ist Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie e.V. und eine zentrale Impulsgeberin für direkte Demokratie und geloste Bürgerräte. Für ihr langjähriges Engagement und ihre publizistische Arbeit wurde sie 2018 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
