Von der Kunst nicht dermaßen regiert zu werden – Strukturförderung statt Projektförderung

Ein Blick auf die Verklammerung von Theorie und Praxis in Migrations­politischen Fragen. Welche Instrumente und Konzepte müssen Anwendung finden, um eine wirklich gesellschaftskritische Migrationsarbeit zu ermöglichen?

Autorin: Prof. Dr. María do Mar Castro Varela

Seit den 1980er Jahren wird in Deutschland darüber ­debattiert, wie Projekte, die Deutschland als „Migrations­gesell­schaft“ ernst nehmen und/oder die „Integration“ von Migran­tinnen und Migranten verfolgen, gestaltet werden sollten. Eine Vielfalt von Diskursen haben diese Frage­stellungen beeinflusst und durchkreuzt. Und eine unendliche Anzahl von Projekten, Vereinen und politischen Gruppen haben mit neuen Konzepten und Ansätzen experimentiert. Interessant scheint mir dabei vor allem ein Blick auf die Verklammerung von Theorie und Praxis. Denn oft genug wird der Fokus entweder auf die theoretischen Debatten gelegt und dabei nicht versucht, eine gute Umsetzung zu finden oder eben es wird in der Praxis ohne eine kritische Theorie­reflexion agiert. Eine nur theoretische Beschäftigung mit Migrationsphänomenen muss in Anbetracht der dringenden migrationspolitischen Fragen, die nach einer Lösung drängen und auch aufgrund der fatalen sozialen und politischen Situation, in der sich insbesondere undokumentierte Migrantinnen und Migranten befinden, zynisch anmuten. Während eine Praxis, die die eigenen Annahmen und Konsequenzen des Handelns nicht kritisch hinterfragt, ­unweigerlich problematische soziale Lagen stabilisiert. Es gilt mithin eine neue Theorie/Praxis-Debatte in der Migrations­arbeit zu eröffnen, die affirmative Migrations­diskurse befördern möchte.

Die Bilder von Migration sind einerseits nicht mehr durchgängig negativ. Anderseits haben Rassismus, Ressentiments gegenüber Migrantinnen und Migranten – aber auch
der spezifische antimuslimische Rassismus und Antisemitismus – in der deutschen Bevölkerung zu und nicht abgenommen, während gleichzeitig die letzten EU-Wahlen eine alarmierende Zunahme rechter Tendenzen in den Wählerschaften zeigen. Dies alles deutet auf eine politische Dynamik hin, auf die unbedingt von einer migrations­akzeptierenden theoretisch-reflektierenden Praxis reagiert werden muss.

Eine wichtige Prämisse scheint mir zu sein, nicht mehr ­unreflektiert auf die Zurufe der Bundesministerien und der Europäischen Union zu reagieren. In den letzten Jahren ­wurden zu oft „Konzepte“ und „Ideen“, die in staatlichen Administrationen entwickelt wurden, von der sozialarbeiteri­schen Praxis – wie auch von politischen Gruppen – unkri­tisch übernommen. Dazu zählen „Menschen mit Migrations­hintergrund“ (Statistisches Bundesamt) und „Willkommens­kultur“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Gleichzeitig wird über die Vereinnahmung von Konzepten wie „Diversity“, „Empowerment“ oder „Inklusion“ deren inhärentes radikales Potenzial gezähmt. Und andere theoretische Instrumente werden gewissermaßen stumpf, weil sie in allzu heterogener Weise benutzt werden und auch weil ihnen zuweilen nachgewiesen werden konnte, dass sie problematische Vorstellungen transportieren, die bei der Umsetzung migrationspolitischer Ziele durchaus kontraproduktive Folgen zeitigen können. Hier wären „Interkulturalität“ und „Interkulturelle Kompetenz“ zu nennen.

Was, so ließe sich fragen, benötigen Ansätze, die eine wirklich Migration affirmierende Theorie/Praxis implemen­tieren wollen? Interkulturelle Projekte versuchten sich be­kanntermaßen an einer Vermittlung von „interkultureller Kompetenz“ und sie implementierten Antidiskriminie­rungspraxen. Versuche, die durchaus positive Konsequenzen entfalteten. Einigen Migrantinnen und Migranten wurden Wege in den formellen Arbeitsmarkt eröffnet, die es ohne die „interkulturellen Projekte“ nicht geschafft hätten und die Skandalisierung von Migrationspolitiken blieb nicht immer gänzlich unbeantwortet. Doch eine wirklich gesellschafts­kritische Migrationsarbeit benötigt Akteurinnen und Akteure, die politisch denken und handeln können. Dafür müssen Strukturen, die nach wie vor soziale Transformation ver­hindern, verändert werden. Kurz finanzierte Projekte, so ­großzügig die Finanzierung auch sein mag, sind nicht in der Lage, Konzepte zu erarbeiten und politische Subjekte mit Transformationswillen zu produzieren. Die oft geforderte politische Partizipation der Migrationsbevölkerung ist jedoch nur möglich, wenn sich möglichst viele an den Debatten ­beteiligen können.

Das Eröffnen von erweiterten Bildungschancen scheint mir hier elementar. Letztendlich profi­tieren alle von einer lebendigen Demokratie. Diese aber bedarf der persistenten Demokratisierung. Migrantinnen, Migranten und geflüchtete Menschen müssen dafür in die Lage versetzt werden und die Chance dazu erhalten, sich politisch zu artikulieren: Forderungen stellen, die nicht ins Leere gehen, Praxen ausprobieren, die ernst genommen werden und Theorien aufstellen, die ­Anerkennung finden. Das verlangt nach eher radikalen strukturellen Veränderungen.

Migrantinnen und Migranten müssen Ressourcen und Räume zur Verfügung gestellt werden, so dass politische Inter­ven­tionen von migrantischer Seite entwickelt werden können. Ein demokratischer Staat, der sich rühmt, Einwanderungs­gesell­schaft zu sein, steht in der Pflicht, dies zu ermöglichen: Ziel ist auf der einen Seite die Etablierung einer performativen Antidiskriminierungspolitik und auf der anderen Seite, wie es der französische Philosoph Michel Foucault einst formulierte, „nicht dermaßen regiert zu werden“.

Prof. Dr. María do Mar Castro Varela, Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, ist promovierte Politikwissenschaftlerin, Diplom-Psychologin und Diplom-Pädagogin. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen: Kritische Migrationsforschung, ­Postkoloniale Theorie und Soziale Gerechtigkeit.

Kontakt:
Prof. Dr. María do Mar Castro Varela, Alice Salomon Hochschule Berlin,
 Alice-Salomon-Platz 5, 
12627 Berlin, 030/99 24 54 01, www.ash-berlin.eu

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